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Digitalindustrie

Alle hassen Projekte und trotzdem machen wir sie: Der Produkt-Firma-Traum.

Ich kann Ihnen sagen, 20 Jahre Projektgeschäft gehen nicht spurlos an einem vorbei. Fast alle in der Branche mit denen ich spreche, haben es eigentlich satt. Zuviel Bewegung, zu viele «moving targets», zu viel Stress. Fast in allen Digitalagenturen kommt daher früher oder später der Wunsch auf, ein Produkt zu lancieren. Und oft gilt es als eine Art «promised Land», in dem Milch und Honig fließen. Dies ist meist zwei Dingen geschuldet: Der Frustration mit dem bestehenden Geschäft und der fehlenden Vorstellung, was produktbasiertes Business wirklich bedeutet.

(Lesedauer: 5 Minuten)

Das Projekt-Dilemma: Die ausbleibenden Win-Win-Win Situationen

Ganz ehrlich, ich konnte in vielen Jahren nur ganz selten ein Projekt erleben, das auf ganzer Ebene wirklich gut lief. Das heisst nicht, dass die anderen Projekte fehlschlagen, sondern es hat eher mit der Definition eines guten Projekts zu tun.

Ich denke, in einem wirklich erfolgreichen Projekt muss es drei Gewinner geben:

  1. Der Kunde weil er ein Produkt, das ihm den gewünschten ROI bringt, «in time & budget» erhält.
  2. Der Anbieter, der einen zufriedenen Kunden gewinnt und mit dem Projekt einen Gewinn erwirtschaften konnte.
  3. Und die Mitarbeiter des Anbieters, die ohne großen Stress in guter Atmosphäre ein gutes Produkt entwickeln konnten, dazulernten und mit dem Kunden Spass hatten.

In den meisten Projekten, so meine Erfahrung, leidet jedoch eine Partei. Meistens sind das die Mitarbeiter, die schlicht durchbeissen und teilweise einen ziemlich stupiden Zirkus mitmachen müssen. Das ist leider Gang und Gäbe. Sehen Sie sich um. Es gibt genug Agenturen, die eine echt krasse Fluktuationsrate haben.

Ich sehe hier die Unternehmer in der Pflicht zwei Dinge zu tun; a) nur wirklich gute Mitarbeiter einzustellen und b) diese dann auch zu schützen. Nicht selten, so muss man auch sagen, vor sich selber. Denn manch einer, gerade in jüngeren Jahren, mutet sich einfach zu viel zu und kann den Druck nicht durchstehen.

Meistens leidet auch der Gewinn der Agentur. Wenn alle Agenturen auch wirklich durchverrechnen können, würde unsere Branche finanziell ganz anders dastehen. Das tut sie aber nicht.

In eher seltenen Fällen büsst der Kunde für die anderen zwei Parteien. In der der Regel aber wissen die Agenturen zu verhindern, dass solches in allzu krassem Masse durchschlägt. Also büssen halt einfach alle Parteien ein bisschen dafür. Das Resultat ist diese Projektfrustration.

Was ich da von Kunden und Agenturvertretern über jeweils andere Projekte höre, geht auf keine Kuhhaut. Und ich kann mit gutem Gewissen sagen, es gibt keine nennenswerte Agentur in Deutschland und der Schweiz, über die ich nicht schon denkwürdige Projekt-Geschichten gehört hätte.

Nachhaltigkeit des Business

Projekte sind auch aus unternehmerischer Sicht irgendwie wenig nachhaltig. Denn ein Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass es einen definierten Anfangs- und Endpunkt hat. Und die allermeisten Kunden haben gar nicht genug Projekte, um auch für einen langfristig nachhaltigen Umsatz bei einer mittelgrossen Agentur zu sorgen. Hat man als Agentur so einen Kunden mal an der Angel, ist man allzu schnell von diesem Kunden abhängig, was auch wieder nicht so gut ist.

Das andere ist: Vor dem Projekt ist nach dem Projekt. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass am Anfang in einer Agenturgeschichte, oder wenn Sie neu in die Branche kommen, ziemlich viel «Excitement» da ist. Das erste verkaufte Projekt über 100k, das erste 500k, das erste über 1Mio., das erste über 5Mio.

„The ceiling is the limit!“

Das sind Momente, die man nicht wieder vergisst. Aber der Champagner, oder mit was Sie sowas am liebsten begießen, fließt von Mal zu Mal weniger. Am Ende dieser Entwicklung gehen Sie nach dem Closing eines riesigen Deals einfach nach Hause und sitzen am nächsten Morgen im Office und jagen dem nächsten Ding nach.

Skalieren über Manpower

Ein weiteres Problem ist, dass sich Agenturbusiness im Moment nur zu einem wesentlichen Teil über Manpower skalieren lässt. Das ist aus unternehmerischer Sicht stupid. Denn gute Leute finden, ihnen tolle Arbeit zu geben und sie zu einem Teil des Unternehmens zu machen, ist sehr schwierig. Und teuer.

Produkt FTW!

Ein Produkt scheint alle diese Probleme zu lösen. Besonders ein Software-Produkt. Es kann grenzenlos kopiert und verkauft werden, praktisch ohne einen zusätzlichen Mitarbeiter einzustellen. Oder als SaaS in der Subskription für regelmäßige, wiederkehrende Umsätze sorgen. Und man ist den Stress los, weil die Kunden nutzen ja einfach das Produkt. Das ist weit weniger komplex, als ein multidimensionales Projekt zu führen. Und die Termine? Yesss, endlich keine stressigen Termine mehr.

Sie merken schon… Alles zu schön um wahr zu sein. Denn Produktbusiness ist genauso hart. Einfach auf andere Weise. In den letzten Jahren wurde ich mit unzähligen Ideen gepitcht und ich gebe sehr gerne Feedback, einfach Mail schreiben und mir den Lunch bezahlen, und versuche auch nettes aber trotzdem ehrliches Feedback zu geben. Das ist öfter sehr hart. Denn was da an Produkt-Business-Ideen kommt, ist vielfach einfach ein «Scratch-your-own-Itch»-Ding von Agentur-Inhabern, die eben projektgeplagt sind. Die meisten Unternehmer machen fundamentale Fehler und haben verklärte Vorstellungen. Hier eine kleine, nicht abschließende Auswahl:

Strategische Grundlagen

Meistens scheitern Ideen an der grundsätzlichen strategischen Konzeption. Weit verbreitet ist z. Bsp. das Digitalisieren von bestehenden Prozessen. Auf den ersten Blick eine logische und gute Sache. Nur basieren die meisten Ideen darauf, alteingesessene Prozesse und Branchenkonstellationen nun digital abdecken zu wollen. Ich halte das für blossen Unfug.

Eine strategische Konzeption muss sich immer danach richten, ein Kundenproblem zu lösen. Je einfacher und günstiger, desto besser. Das fördert automatisch unkonventionelle Konzepte und diese sind dann wirklich neu und haben viel höhere Halbwertszeiten.

Setzen Sie sich immer hin und überlegen Sie ohne bestehende Lösungen und Best-Practice im Kopf zu haben: Wie würde ich das Kundenproblem mit den technischen Möglichkeiten heute lösen? Und eben nicht: Wie kann ich einen bestehenden Lösungsweg digitalisieren?

Funktionierenden Code zu haben, ist noch lange kein Produkt

Oft treffe ich auch auf Leute, die eine Applikation bereits laufen haben. Jene meinen in der Regel, man müsse es nun nur noch ein wenig aufhübschen, die Doku schreiben, einen Support und einen Cart einrichten und dann könne es losgehen. „Das ist natürlich Quatsch“, werden Sie sagen. Ist ja selbstverständlich, dass Vermarktung und Verbreitung etc. viel Aufwand und Geld bedeutet. Und so ist es auch.

Aber noch davor kommt das Hardening des Codes. Fragen wie: Was passiert, wenn 20’000 Kunden die Plattform nutzen? Was ist, wenn wir über die Kundenbasis ein sicherheitsrelevantes Update schnell deployen müssen?

«Vielfach kann die Codebasis mit den Zielen in Businessplänen nicht mithalten!»

Starten Sie trotzdem voll rein, kann es, es muss aber nicht, relativ bald zum Crash kommen. Nämlich dann, wenn das Produkt rege genutzt wird, Sie aber permanent Qualitätsprobleme haben. Das fühlt sich dann in etwa so an, wie ein Projekt in Schieflage – einfach mit 20’000 Projekt-Stakeholdern auf Kundenseite.

Support

Support ist wichtig. Ich weiss schon, dass viele Start-Ups sich radikal auf autonom funktionierende Plattformen konzentrieren und aus verschiedenen Gründen möglichst wenig menschliche Interaktion wünschen. Auch VCs pushen das in der Regel. So sympathisch mir das grundsätzlich ist, so hoch gewichte ich trotzdem richtig guten Support. Dies aus zwei Gründen:

  1. Es ist eine von zwei fundamentalen Möglichkeiten die Customer Experience zu gestalten. Die andere ist das Produkt selber. Es gibt nix besseres für eine Kundenbeziehung, als ein Problem, das der Support des Anbieters zur Zufriedenheit des Kunden in kurzer Zeit gelöst hat. Es ist mir unverständlich, warum so viele Unternehmen auf der einen Seite Unsummen in Image und «Blabla» investieren und sich auf der anderen Seite die beste Gelegenheit dem Kunden ein Image zu vermitteln, eben im Supportfall, mit out-gesourctem, schlecht geschultem Personal und zweifelhaften Reglementen schlicht entgehen lassen.
  1. Nie ist man dem Kunden näher. In keiner Umfrage, die man breit anlegt, keiner Marktforschung. Es ist die ultimative Möglichkeit mehr über die Bedürfnisse und Sorgen der Kunden zu lernen. Das wiederum ist der Rohstoff mit dem Sie ein wirklich herausragendes Produkt erarbeiten.

Eine Produktfirma werden!

Der grösste Irrtum aber ist, dass es möglich sei, organisch aus einem Agenturbusiness in ein Produktbusiness zu wachsen. Natürlich gibt es Beispiele. Sehr prominent z. Bsp. Magento oder auch 37Signals. Aber in aller Regel funktioniert das nicht.

Denn ein Produktbusiness aufzuziehen, ist extrem aufwändig und benötigt stete Arbeit. Das ist in kleinen Firmen (< 100 FTE) besonders schwierig, weil Projekte eben auch gemacht werden müssen und sobald etwas nicht rund läuft, wieder 100% Aufmerksamkeit benötigen. Vernachlässigt wird dadurch, wie könnte es anders sein, das Produkt.

Es ist aber auch grundsätzlich eine andere Kultur. Projektgeschäft ist sehr viel dynamischer & kurzfristiger. Entwickelt und vertreibt man ein Produkt, ist viel mehr Weitblick gefragt. Auch finanziell. Und ja auch hinsichtlich der Investitionen. Denn ohne diese geht es schlicht nicht.

Warum denn machen wir in der Digitalbranche Projekte?

Und so bleiben viele, auch wenn Sie Ideen und Diskussionen haben, ganz einfach beim Projektgeschäft. Denn es ist halt schlicht sehr einfach. Jemand, der sich verkaufen kann, tut sich mit jemandem der programmieren kann zusammen. Und schon steht die Agentur. Das kann man ab einer Kreditkarte boostrappen.

Schon klar, ich übertreibe. Aber es geht doch in diese Richtung. Da die Nachfrage derart hoch ist und die Kunden ein tiefes fachliches Niveau aufweisen, kann fast jeder mit gutem Digital-Know-How schon im ersten Monat Umsätze generieren.

Die wirkliche Herausforderung für Agenturen

Auch wenn viele Agenturinhaber ein Produktvertrieb als eine Art von höherem unternehmerischem Dasein betrachten, denke ich, diese Vorstellung ist verklärt. Vielmehr erachte ich als wirkliche Herausforderung die Verselbständigung des Geschäfts.

Sodass das Agenturteam Projekte machen kann, ohne dass das Management involviert ist. Es ist für mich unglaublich, in wie vielen grösseren Agenturen ohne Führungsköpfe nichts geht. Auf dem täglichen Level wohlverstanden.

Das sollte für viele Unternehmer die Herausforderung sein, die es zu meistern gilt. Denn wenn das geschafft ist, wäre da auch die Zeit und Energie, sich um ein Produkt zu kümmern. Hätte. Wäre. Wenn.

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2 Antworten auf „Alle hassen Projekte und trotzdem machen wir sie: Der Produkt-Firma-Traum.“

Hallo Alain

Wie sehr du mir mit diesem Beitrag aus dem Herzen sprichst. In deiner Argumentation fehlt meiner Meinung nach aber ein zentraler Punkt, welcher für mich das treibende Element vom Traum der eigenen Produktfirma ist. Nämlich der Drang etwas zu schaffen, was entgegen dem Projekt Business kein Ende hat. Etwas was der Nachwelt erhalten bleiben könnte.
In einem anderen Beitrag hast du ja selbst geschrieben, dass du es leid bist mit Kunden „baybschritte“ zu machen. Ich denke das ist was es schlussendlich ausmacht. Die grösseren Schritte die man machen kann. Dies weil man die vollkommene Verantwortung über Erfolg oder Misserfolg des Produktes hat und das ist genau das was mich antreibt und von der eigenen Produktfirma träumen lässt.

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