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Webagenturen: Full-Service vs. spezialisierte Agenturen

Der Begriff Full-Service-Agentur ist in der Branche seit langem in inflationärem Gebrauch. Doch wie mit allen Buzzwords hat so mancher Kunde und fast jede Agentur seine ganz eigene Definition. Dabei ist ein Full-Service-Angebot immer ein Kompromiss. Wann, warum und wann Sie diesen nicht eingehen können, erfahren Sie in diesem Artikel.

(Lesedauer: 6 Minuten – English Version here)

Full-Service?

Der Begriff „Full-Service-Agentur“ umschreibt die Fähigkeit einer Webagentur, sämtliche Dienstleistungen, die ein Kunde benötigt, erbringen zu können. In den Anfängen der kommerziellen Webnutzung hatte er eine Zeit lang seine Berechtigung. Es ging damals darum, überhaupt eine erste Website zu erstellen. Also Design, Inhalt und technische Umsetzung unter einen Hut zu bringen. Hatte der Kunde zuvor mit einer Werbeagentur die grafischen Aspekte erarbeiten müssen, kam für die Erstellung der Seite eine technische (IT-) Agentur zum Einsatz. Für den Kunden ergab dies den Nachteil, dass er mit zwei Agenturen verhandeln und koordinieren musste. Mit einem Full-Service-Anbieter konnte er beides aus einem Haus beziehen, was natürlich vorteilhaft war.

Die Breite der Internet-Dienstleistungen haben sich seitdem radikal vergrössert. Wurden damals Websites hauptsächlich manuell erstellt, kennen wir heute eine Vielzahl von CMS, jedes mit seinen eigenen speziellen Vor- und Nachteilen. Komplett neue Disziplinen wie SEO, SEA, eCommerce, Social-Media und Newsletter-Marketing uvm. kamen dazu. Und jede dieser Disziplinen erfordert eine Unmenge an Know-How. Der Full-Service-Anspruch wurde und wird zunehmend schwieriger, zu erfüllen.

Ich war lange ein Verfechter von Full-Service-Angeboten, ganz einfach weil diese für den Kunden sehr einfach waren. Über die Jahre und mit der Entwicklung der Branche musste ich aber erkennen, dass ein Full-Service-Angebot aus Agentursicht praktisch nicht mehr zu leisten ist. Warum? Ganz einfach. Es werden viele Mitarbeiter benötigt, um die Dienstleistungen in ausreichender Qualität zu erbringen. Eine einfache Rechnung dazu: Sagen wir eine Agentur erbringt

– Strategische Beratung (mindestens 3 Personen)
– Konzeption (min. 4)
– grafische Umsetzung (min. 3)
– UX /CX (min 3)
– Projektleitung (min. 4)
– Architects (min. 3)
– 3 Dev-Teams (à min. je 5)
– Testing / QA (min. 2)
– Support (min. 5)
– Content / Editorial (min. 3)
– SEA/SEO (min. 3)
– Newsletter (min. 2)
– DevOps (min. 3)
– Overhead (Management/Administration min 4)
– Marketing/Business Development (min 2)

Der minimale Personalbedarf liegt also bei rund 60 Mitarbeiterinnen. Damit können aber nur 2 Produkte (z. Bsp. eine Content-Management und eine eCommerce Lösung) unterstützt werden, welche auf der selben Technologie (z. Bsp. PHP oder Java) basieren. Kommen weitere Produkte oder gar mehrere Technologien dazu, vervielfacht sich der Personalbedarf rasch. Agenturvertreter werden einwenden, dass es wohl auch mit viel weniger Personal ginge, da gewisse Funktionen in Personalunion ausgeführt werden könnten. Beliebt sind dabei Support und Dev, Verkauf und Management, Projektleitung und Konzeption, Architects und Dev, Content und Support. Natürlich geht das und ist in der Praxis Gang und Gäbe. Sobald jedoch Mitarbeiter krank werden, eine hohe Fluktuation herrscht und/oder Projekte schiefgehen, kompensieren solche Organisationen entweder über die Arbeitsqualität oder über die Mitarbeiter oder beides. Das heisst konkret, die Projektresultate sind von schlechterer Qualität und die Mitarbeiter müssen Überstunden leisten. Die wenigsten Agenturen tragen die Kosten einer zu dünnen Organisation wirklich selber.

Eine echte Full-Service-Agentur für mittelständische Kunden muss heute mindestens 100 Mitarbeiter beschäftigen, um qualitativ hochstehend arbeiten zu können (in allen Bereichen), mit der technologischen und methodischen Entwicklung mithalten zu können und für Ihre Kunden ein sicherer und stabiler Partner zu sein.

Ist nun jede Webagentur mit weniger Mitarbeiter unseriös?

Das wäre eine vermessene Unterstellung. Wenn die Agentur jedoch die ganze Palette an Dienstleistungen anbietet und selber erbringt, ja, dann halte ich das für unseriös. Glücklicherweise macht dies praktisch keine Agentur und jene, welche es versuchen, verschwinden meist bald wieder. Die kleineren Agenturen welche heute mit „Full-Service“ werben, bieten oft lediglich in einem Segment (z. Bsp. CMS oder eCommerce mit einem Produkt) Full-Service an und verweisen, sobald der Kunde Leistungen in einer anderen Disziplin nachfragt, an Partner oder Konkurrenten. Sie sind also in gewisser Weise spezialisiert und legen den Begriff Full-Service auf den Teilbereich aus, in dem sie tätig sind.

Aus Kundensicht: Wann Full-Service-, wann spezialisierte Agenturen?

Die folgende Grafik zeigt verschiedene Entscheidungskriterien.

Full-Service- oder spezialisierte Agentur?

Am ausschlaggebendsten sind sicher die Ressourcen und das fachliche Know-How beim Kunden. Ist dies vorhanden, macht der Einsatz von spezialisierten Agenturen tendenziell mehr Sinn. Denn durch die spezialisierten Agenturen steigt die Qualität des Projekt-Ergebnisses, da Spezialisten über mehr Know-How verfügen. Dieser Vorteil hat natürlich auch seinen Preis. Spezialisierte Agenturen listen in der Regel höhere Tagessätze.

Vermehrt sehen wir auch Dienstleister die Projektleitung, Controlling und Management für Web-Projekte erbringen. Ich denke, das ist ein guter Weg, um die interne Organisation zu verstärken und Projekte sicherer zu machen. Dass damit der Kunde auch die Rolle des Product- und/oder Projekt-Owners delegiert werden kann, ist hingegen illusorisch.

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4 Antworten auf „Webagenturen: Full-Service vs. spezialisierte Agenturen“

Wenn es auf Kundenseite die Bereitschaft gibt, in eine Partnerschaft mit einem externen Dienstleister einzusteigen, kann Full-Service m.M. sehr grossen Mehrwert für das Unternehmen bieten. Voraussetzung ist aber, dass sowohl auf beiden Seiten die richtigen Strukturen und das richtige Mindset vorhanden sind.

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