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Digital Transformation

Hätte der Retail wissen können oder müssen, dass er derart überrollt wird?

Nun ist es auch im breiten Bewusstsein angekommen. Der Retail steckt in einer tiefgreifenden Krise. Läden schließen, Umsätze gehen zurück und wieder sind die Branchenvertreter gut darin, allen möglichen Umständen Schuld zu geben. In Tat und Wahrheit sind die einzigen, welche an der Misere schuld sind, sie selber. Und, soviel vorab, man hat die Entwicklung voraussehen können.

(Lesedauer: 5 Minuten)

USA macht es gerade vor

Welches Ausmaß diese Entwicklung annimmt, lässt sich in den USA erahnen. Über 3000 Läden sollen dort im 2017 nur von den größeren Retailketten geschlossen werden.

Diese Entwicklung widerspiegelt sich auch in Europa, wenn auch noch nicht in der selben Größenordnung. Die Betonung liegt dabei auf „noch“.

Man sah es kommen

Wenn Vertreter des gebeutelten Einzelhandels nun so tun, als wären das alles ganz unvorhersehbare Entwicklungen, dann wundert man sich als Beobachter doch gewaltig.

Denn während andere Industrien tatsächlich nicht wirklich erkennen konnten, dass ein Umbruch bevorsteht, kann das der Retail nicht von sich behaupten. Zu klar war der grundlegende Trend.

Kundenfrequenz

Als ich in Teenagerjahren einmal einen Jeans-Shop eröffnen wollte, habe ich schnell gelernt, dass die Kundenfrequenz im stationären Handel einer der primären Erfolgsfaktoren ist. Vereinfacht erklärt heißt das, dass die Anzahl der Kunden die täglich an einem Geschäft vorbeigehen, die Grundmenge definiert, aus welcher ich als Unternehmer Kunden konvertieren kann.

Bei der Evaluation von neuen Standorten ist diese Kundenfrequenz ein zentraler Wert. Das Denken in Kundenfrequenz muss also jedem Retailer sozusagen eingeimpft sein.

Genau dieses Kundenfrequenzdenken wurde aber offensichtlich in der Marktbeobachtung nicht angewandt. Denn diese Kundenfrequenz ist nach und nach im und mit dem Internet aufgebaut worden.

Internetnutzung = Kundenfrequenz

Um das zu erkennen, muss man nix weiter tun, als die banalsten Erhebungen zur Internetnutzung konsultieren.

Das Aufkommen des Internets ist zum Beispiel in den ARD/ZDF-Onlinestudien für Deutschland sehr schön dokumentiert. Es gibt unzählige weitere solche Studien. Um eine zukünftige Veränderung der Konsumenten zu beurteilen, muss man nicht die bestehenden Konsumenten betrachten, sondern die Nachrückenden.

Diese Nachrückenden, die Internetnutzer in der Altersklasse der 14-19-jährigen, betrug 1997 6,3% aller Jugendlicher. Drei Jahre später war sie bereits bei 48,5% und weitere 3 Jahre später bei 92,1%. Die Adaption des Internets geschah in dieser Gruppe mit am schnellsten. Und diese Jungen waren damals zwar für den bestehenden Markt noch nicht sonderlich relevant, bildeten aber eine heute relevante Kundschaft ab. Sie sehen in dieser Spalte aus dem Jahr 2003 sozusagen die Zalando Kunden von heute.

Spätestens 2003 war damit klar, dass das Internet in der zukünftigen Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielen würde. Denn die nachrückende Generation wurde damit sozialisiert und wird es natürlich noch immer, wie 100% Adaptionsraten in den folgenden Jahren zeigen. Zugleich war aber auch bei den älteren Gruppen die Akzeptanz des Internets gestiegen. Eindrücklich ist auch die Kurve bei den Rentnern mit einem Wert von 60,9% im Jahr 2016.

Das kauft man nie online?

Nun bedeutet Internetnutzung noch kein Online-Shopping. Und es lag auf der Hand, damals anzunehmen, dass Produkte die auch haptisch qualifiziert werden müssen, nicht im Internet gekauft werden. Das war aber nur ein vordergründig logisches Argument.

Denn Internetnutzung bedeutet Kundenfrequenz: Da sind also potentielle Kunden in einem Raum vorhanden. Es war damals nur logisch, dass früher oder später an dieser Kundenfrequenz auch entsprechende (Online-)Läden entstehen mussten. Und, dass gegen Nachteile wie die fehlende haptische Qualifikation früher oder später auch Lösungen wie z. Bsp. kostenlose Rücksendung und ähnliches gefunden werden.

Es ist schon sehr erstaunlich, dass gerade bei Unternehmern, welche in diesem Kundenfrequenzdenken unterwegs sind, genau diese Überlegungen nicht gemacht wurden. Denn wo ein Potential ist, wird dieses auch ausgenutzt.

Der Grund warum es Zalando gibt, ist das Versäumnis der großen Fashion-Retailer, die Entwicklung der Internet-Nutzung richtig zu lesen und die sich daraus ergebende Chance unternehmerisch zu verwerten.

Das Aufkommen von neuen Playern, die dieses Potential erkannten, ist denn auch überhaupt nichts bahnbrechendes. Es ist erst durch das Versäumnis der angestammten Player möglich geworden, dieses Potential auszunutzen. Und weiter auszunutzen.

Hätte, hätte FahrradRetailkette

Die Leute sagen, alle wüssten immer wie es geht. Die einen vor und die anderen nach einem Ereignis. Und ja, es ist natürlich einfach im Nachhinein in Statistiken zu sehen und eine tiefgreifende Veränderungen zu erklären oder zu untermauern. Aber man muss sagen, es war schon ziemlich offensichtlich.

Erschwerend dazu kommt, dass viele E-Commerce Berater wie z. Bsp. der Schweizer Thomas Lang seit Jahren auf diese Entwicklungen in Online und stationärem Retail aufmerksam machen und dafür sensibilisieren. Man kann, wenn man heute im Fashion-Retail kodakt, nicht behaupten, niemand hätte einen vorgewarnt.

Nun, Vergangenheit ist vergangen. Darüber zu lamentieren, ist natürlich mühselig. Wichtig wäre aber, dass man eigene Fehler eingesteht. Denn diese sind die Basis, um in Zukunft Chancen verwerten zu können. Selbsterkenntnis ist bekanntlich der erst Schritt auf dem Weg der Besserung.

Selbsterkenntnis

Genau diese Selbsterkenntnis vermisse ich, wenn ich diese Statements von den schrumpfenden oder konkursiten Anbietern höre. Immer sind alle anderen Schuld. Das macht mich nicht gerade optimistisch für die verbleibenden Player.

Denn die Zeit wird nun für viele echt knapp. Auch das lässt sich aus den Zahlen schön ablesen. Dazu kommt, dass die Bereitschaft der Konsumenten (auch) online zu kaufen, immer mehr steigt. In der „stationären Sprache“: Die Konsumenten welche die Straße runtergehen, tun dies nicht nur, weil sie bei Facebook halt machen wollen, sondern weil sie immer mehr tatsächlich auch einkaufen wollen.

Als Retail-Unternehmen die notwendige Kompetenz und die strategische Ausrichtung zu entwickeln, ist schon aus einer Position der Stärke schwierig – unter Druck scheint es nun fast unmöglich. Wir werden weitere Schließungen von Läden und Pleiten sehen. Ich befürchte, es hat erst gerade so richtig begonnen.

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Eine Antwort auf „Hätte der Retail wissen können oder müssen, dass er derart überrollt wird?“

Ich befinde mich zur Zeit zwischen zwei Jobs und koste jede freie Minute aus. Da meine Frau arbeitet bin ich tagsüber allein. Nachdem ich einen Arzttermin wahrgenommen und das Auto zur Inspektion gevracht hatte, verbrachte ich fast 5h in einer Mall mit H&M, Karstadt, Saturn, P&C und kleinerer Label Shops…. tagsüber unter der Woche!
Mal abgesehen von dem mir völlig unverständlich hohen Preisniveau und der riesigen Ansammlung schlecht geschnittener und schlechter Kleiderqualität mit wenigen Ausnahmen war ich fast überall allein, mal abgesehen von einigen Angestellten und mutmaßlichen Kaufhausdetektiven. Es hat mich auch nur einmal in einem kleinen Retailstore – scheinbar ein verantwortlicher Angestellter – Anfang Zwanzig angesprochen und bedient.

Der Niedergang muss kommen, bis es realistische Preise und gute Qualität und Schnitte wieder in den Läden gibt. Sonst kann und muss ich weiter online einkaufen. Da bin ich flexibler, kann abwägen zwischen Alternativen und kann meine Kaufentscheidung in Ruhe überdenken.
Und bitte: Schafft doch mal ein Standard-Outfit-Repertoir: Es muss doch möglich sein in diesen Riesen-Kaufhäusern zumindest Jeans, T-Shirts, Strickpulli, Fleece-Jacke, Strickjacke, Sweatshirt…es ist bald Winter für den Alltag zu bekommen. Und damit meine ich nicht hunderte hässliche 199,- EUR Winterjacken.

Ach ja und noch ein Wort zu den Anzugabteilungen der deutschen Kaufhausketten: Fahrt bitte mal nach London, damit ihr wisst, wie Qualität aussieht…

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