Kategorien
Digital Transformation

Das „Unsere-User“-Syndrom

Es scheint ein diffuses, mysteriöses Leiden zu sein. Immer wieder beobachte ich es bei Kunden. Kunden von ganz unterschiedlicher Ausprägung. Sei es Herkunft, Geschlecht oder Hautfarbe. Sei es in Gross- oder Kleinunternehmen. Sei es in Deutschland, Frankreich, Italien oder der Schweiz. Überall habe ich es schon erlebt, das „Unsere Kunden“-Syndrom.

(Lesedauer 5 Minuten)

Härtefälle

Am ausgeprägtesten beobachtete ich es einmal bei einem kleinen Unternehmen, welches ich bezüglich eCommerce Aktivitäten begleitet hatte. Nachdem ein Setup-Projekt für Online-Shop abgeschlossen war, erste Bestellungen eintrafen und wir in einem Workshop erste Zahlen aus dem Analytics Tool auswerteten, schlug ich basierend darauf Optimierungen im Produktsortiment und in der Darstellung der Produkte vor.

Ich bin mir ja einiges an Beratungsresistenz gewohnt und kann in der Regel auch gut damit umgehen. Ich bleibe einfach hartnäckig und erkläre wieder und wieder die Fakten, die wir gesammelt haben und versuche meine Kunden selber auf die richtige Lösung kommen zu lassen. In diesem Fall hat das jedoch nicht ansatzweise funktioniert: Meine Kunden waren kategorisch gegen alle Maßnahmen, die ich vorschlug. Maßnahmen die, notabene, völlig logisch waren. Dies waren Massnahmen wie z. Bsp. Call-to-Action Elemente in den Viewport im Bestellungsprozess zu verschieben.

Als ihnen die sachlichen Argumente ausgingen, kam das Killer-Argument schlechthin: „Unsere User“ wollen das so nicht. Als Coach und Berater ist man damit in der Falle: Entweder gibt man klein bei und nimmt damit seinen Auftrag nicht wirklich ernst oder aber man widerspricht und sagt damit indirekt, dass der Kunde über seine User weniger wisse als man selber. Das nicht gerade offen zu formulieren, hat irgendwo auch mit Anstand zu tun. Kunden, die bewusst darauf spielen, da sie aus anderen, etwa firmenpolitischen, Gründen keine Veränderung wollen, sind sich dessen sehr wohl bewusst. 1:0.

Die glauben das wirklich

In einem anderen Fall wollte der Kunde im Newsletter partout keine Produkte anpreisen, obwohl er dringend auf Bestellungen angewiesen war. „Unsere User wollen das doch nicht, sie wollen inspiriert werden, solch schnöde Produktwerbung wird sie nur abschrecken“ Das wäre auf den ersten Blick ein valides Argument, nicht aber wenn wir bereits fast 20 % der Newsletter Abonnenten per Umfrage abgeholt hätten. 80% der Befragten wünschten sich konkrete monatliche Angebote. Der banale Kommentar meines Kunden: „Da sind ja nur 20% befragt worden, wahrscheinlich die falschen.“ Facepalm.

Was verbirgt sich dahinter?

Natürlich sind dies die Momente, wo man an die Aufkündigung des Auftrags oder Mandats denkt. So kommt niemand weiter. Mich hat dieses Erlebnis, das sich eben leider immer mal wieder in leicht abgeänderter Form wiederholt, in gewisser Weise auch fasziniert.
Wie kann man Fakten einfach so negieren? Lange Zeit hatte ich keine Ahnung. Bis ich bemerkte, dass meine Kunden sich selber in den allermeisten Fällen als eine Art Referenz sehen.

Das „Unser-Kunde-Syndrom“ hat einen kleinen Bruder, denn „das sehe ich ja schon an mir“-Effekt

Viel zu oft gehen nämlich Kunden von sich selber aus, um die Bedürfnisse ihrer User zu bestimmen. Es fallen dann so Sätze wie „Diesen Inhalt wird nicht auf dem Mobile gelesen, das sehe ich ja schon an mir. Ich würde das nie tun“. Oder „Diese Ersatzteile werden nicht online bestellt, das sehe ich ja schon an mir. Es ist für mich per Telefon viel einfacher“. Der Haken an der Sache ist: Nur ganz selten ist das eigene Verhalten mit dem der Mehrheit der User kongruent.

Irgendwie werden die eigenen Präferenzen und Gewohnheiten auf die Kunden reflektiert. Und so werden diese dann durch denjenigen wieder bestätigt, dem man am meisten vertraut. Einem selber.

Der Versuch den Wandel aufzuhalten

Nur derart psychologisiert zu argumentieren, greift aber zu kurz. Ich glaube sagen zu können, dass das Syndrom bei älteren Kunden öfter vorkommt. Das hingegen scheint mir schon eher logisch: Wer mit seiner Userbasis schon ein Jahrzehnt und mehr beruflich verbracht hat, hat logischerweise Mühe, die Veränderungen in ebendieser Basis zu akzeptieren. Und da kommt einem so ein Berater-Spezi mit allerlei Zahlen, Kurven und Diagrammen gerade recht. Soll der doch zuerst mal 10 Jahre machen in meinem Geschäft.

Strategien aus dem Dilemma

Ich habe aber auch eine Strategie entwickelt, die das Syndrom lindern kann. Folgende 4 Punkte helfen meist recht gut:

  1. Sich nicht ärgern. Es gehört halt einfach dazu und es ist unsere Aufgaben den Kunden zu coachen, auch wenn er das Gefühl hat, es geht grad komplett in die falsche Richtung
  2. Den Kunden ernst nehmen. Erstmal zuhören, auch wenn man die Erkenntnisse aus Analytics und Studien bereits kennt. Beratung ist immer auch People Business. 50% im Minimum.
  3. Einen Deal vorschlagen: Im Rahmen einer A/B Anordnung versuchen, beide Wege zu testen. Mit konkreten Ergebnissen, gerade wenn auch Geld im Spiel ist, kommt man meist weit.
  4. Kann sich der Kunde nicht durchringen, die gewinnende Anordnung umzusetzen, einfach beide, A und B zur Lösung erklären. Das ist ein Sowohl-als-auch-Kompromiss und fachlich wohl nicht das idealste. Betrachtet man aber die Gesamtkonstellation, ist es wohl doch das Maximum, was man herausholen kann. Man kann ja bekanntlich niemand zu seinem Glück zwingen.

Ich kann nur hoffen, dass mehr und mehr Kunden ihre Entscheidungen zu allererst auf den Daten und Erkenntnissen, die zur Verfügung stehen basieren. Es gibt noch genug Bereiche, wo es keine Erfahrungsdaten gibt, wo Intuition und Erfahrung gefragt sind. Auch im Webbereich. Es wäre schön, wir könnten unsere Energie darauf konzentrieren.

Artikel auf Social Media teilen:

3 Antworten auf „Das „Unsere-User“-Syndrom“

In der Tat trifft man immer wieder auf diese Argumentation. Mit Sicherheit gibt es diverse Faktoren die jemanden dazu verleiten solche Äußerungen von sich zu geben. Die menschlichste davon ist dann noch die erwähnte „man schließt einfach von sich auf andere“, sogar wenn ziemlich eindeutig ist, dass man selbst mit der eigentlichen Zielgruppe nicht das geringste zu tun hat. Es gibt aber auch noch den Typ „Totschläger“, der ganz absichtlich sich selbst als vermeintlich zielgruppen-kompetent darstellt, da er weiß es wird ein Dienstleister oder auch ein in der Hierarchie unter ihm stehender nur mäßig dagegen argumentieren. Eine erweiterte Form ist auch noch das Zitieren einer Stimme aus der Zielgruppe und diese als repräsentativ zu verkaufen. Gern genommen ist dabei in meinem Umfeld immer „Unser Vertrieb will aber das …“. Oft ergibt sich auf Nachfrage auch noch die Manifestation im Sinne von „ich habe persönlich mit dem Vertrieb gesprochen“. Am Ende stellt sich oft heraus, es gab ein Telefonat, in dem an Rande das Thema gestreift wurde. Und genau ad, wie sie es beschreiben hilft nur Geduld und eine Art „Testfeld“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.